Samstag, 11. September 2010

probleme mit restavek-zelten

Liebe FreundInnen Haitis,

es ist kaum zu glauben, was alles schief gehen kann. Da haben wir Ende August irgendwann eine Mail von Schwester Marthe erhalten, dass die 20 bis dahin komplett obdachlosen Restavekgruppen jetzt endlich dank uns eine perfekte Unterkunft hätten - und haben uns gefreut. In der Nachbarschaft würden sie sehr um die großen und viel stabileren Zelte beneidet. Der erste Eindruck sei immer, dass dort eine Notklinik aufgemacht werde. Auch bei meinen ersten Begegnungen mit einigen Monitoren, die diese Gruppen betreuen, erhielt ich diese Auskunft. Als ich aber in den vergangenen Tagen immer dann, wenn ich dafür Zeit hatte, mal ein solches Zelt besuchte, traute ich meinen Augen kaum: Wände, Planen und Böden passten meines Erachtens nach überhaupt nicht zueinander. Zwischen den Wänden und der Verankerung am Boden klaffte eine Lücke von mindestens 30 Zentimetern. Dennoch waren die Kinder selig. Sie könnten nun im Trockenen schlafen, erhielten Unterricht im Schatten und hätten einen Platz für sich, zählten sie bei meinem Besuch die Vorteile auf. Die süßeste Antwort auf meine Frage, wie denn die neuen Zelten seien, kam aber von einem kleinen Buben: "Das Zelt ist super, es riecht so schön neu!"


Für mich waren diese Vorteile zwar auch offensichtlich, dennoch fand ich den Zustand der Zelte nicht akzeptabel. Zuerst dachte ich, es handelt sich vielleicht genau um jene, bei denen etwas fehlte. Ihr wisst, wir hatten einige Säcke mit Bauteilen zu wenig, dafür andere zuviel geliefert bekommen und den Austausch bereits in die Wege geleitet. Meinen aktuellen Auskünften des amerikanischen Lieferanten zufolge hingen die noch nötigen Teile im Zoll in Santo Domingo fest. Erst als ich das fünfte Zelt in einem solchen bedauerlichen Zustand antraf, nagten schlimmere Zweifel
                                                                                   an mir. Wohl
in der Hoffnung, dass wir nicht einen Fehlkauf getätigt haben, gärte der Verdacht in mir, dass die Gruppen die Zelte falsch aufgebaut hatten. Ich nahm mir einen Tag Zeit, um eines der Zelte, das noch nicht aufgebaut ist, zu inspizieren. Leider war es der heißeste Tag bisher, und das Zelt ist aus gutem Grund noch nicht aufgestellt: Schon die Anlieferung der sieben Säcke dauerte über eine Woche. Der Wohnort dieser Gruppe liegt weit oben auf den Bergen von Port-au-Prince. Taptaps können das Viertel nur bis zu einem bestimmten Punkt erschließen, dann werden die Straßen zu steil und zu eng. Die letzten zwei Kilometer (gefühlte 20!) gingen dann sogar nur noch über schmale Treppen... Obwohl ich gerade die letzten Wochen beruflich viel in den Bergen unterwegs war und mich fit glaubte, dachte ich zeitweise, ich schaffe es nicht bis zu meinem Ziel. Mit hochrotem Kopf war ich kein "blan" - das heißt auf Kreolisch Weißer und zugleich Fremder - mehr, sondern ein "rouge", kurz davor wie ein Wasserkessel aus dem letzten Loch zu pfeifen. Endlich oben angekommen traf ich in der Sackgasse auf dem Dach eines anderen Hauses, dem ich nicht zutraute, mehr als fünf leichtgewichtige Restavek noch zu tragen, auf ein fast vollkommen ungeräumtes Trümmerfeld. Die Monitorfamilie klopft dort eifrig Steine klein, füllt sie in Eimer und trägt sie kilometerweise nach unten, damit auf der am Sanktnimmerleinstag entstehenden Freifläche die neue Unterkunft aufgebaut werden kann.


Die Lieferung war komplett, die Sacknummern passten zusammen, und doch zeigte sich gleich beim Auspacken des Wandgestänges und der Seitenwände, dass sie unterschiedliche Längen haben. Auch die Dachwinkel sahen merkwürdig anders aus als der Rest der Metallteile. Nach stundenlangem Tüfteln ohne einleuchtende Erklärung - Wer Haiti kennt, kann sich grinsend ausmalen, was für ein Brimborium durch mich dort entstanden ist, wieviele Menschen sich auf kleinstem Raum aufhalten können (zum Glück trug das rissige Haus unter uns mehr als ich befürchtet hatte...) und wie wenig man in der Bruhaha-Geräuschkulisse noch seine eigenen Gedanken verstehen konnte. - entschloss ich mich, trotz der immensen Kosten mit meinem deutschen Handy von Haiti aus in die USA zu telefonieren. Zum Glück erreichte ich bei den Lieferanten Mitarbeiter, die sich meinem Problem aufgeschlossen widmeten. Auch der Ingenieur, mit dem ich die Bestellung abgewickelt habe, zeigte sich aber zunächst ratlos. Ich mailte ihm - es hat was, ein hochmodernes Kommunikationsgerät zur Verfügung zu haben - Fotos von den Teilen, und man versprach, mir über Nacht eine Lösung zu präsentieren.

Auf meinem Abstieg in die Niederungen der Stadt hing ich zunächst mal meinen Gedanken nach: Wie konnten mir vorab alle sagen, dass sie so glücklich über die Zelte waren? Schwiegen die HaitianerInnen nur aus Höflichkeit, weil sie so dankbar sind, dass sie überhaupt eine ordentliche Plane über den Kopf, nicht aber um die Füße gekriegt haben? Als wir nicht mehr von hunderten Menschen aus der Nachbarschaft begleitet wurden, sondern nur noch die hartnäckigsten Kinder (die trotz Hungers, fehlenden Schuhen und konkretem Anlass scheinbar mühelos die steilsten Passagen hüpfend meisterten) am Hosenzipfel hängen hatten, begann ich mit Ronald, einem Vorstand von Mouvman vin plis moun, der mich begleitet hatte, darüber zu sprechen. Er stimmte mir zu, dass die von allen offiziellen Hilfen abgeschnittenen Menschen besonders dankbar seien und deshalb an nichts Kritik üben würden. Er meinte außerdem, dass einige Gruppen die merkwürdigen Zelte positiv bewertet hatten, weil bei Regen das Wasser einfach durchfließen könne. Viele HaitianerInnen wagten es nicht einmal ansatzweise, die Hilfen aus dem viel weiter entwickelten Ausland infrage zu stellen. - So ein Quatsch, wie sich am nächsten Tag herausstellen sollte. Denn der US-Lieferant hatte versehentlich Teile aus zwei Generationen geschickt. Boden und Wände können daher nicht zueinander passen. Obwohl wir nicht die einzigen Käufer dieser Lieferung waren, sind wir aber die einzigen, die das Problem gemeldet haben. Scheinbar werden auch die anderen Hilfsorganisationen von ihren Schützlingen als unfehlbar eingestuft...


Immerhin, nicht nur die Zelte sind - theoretisch - von guter Qualität, auch der nicht profitorientierte US-Lieferant. Am Sonntag fliegt ein Team von ihm ein, das Abhilfe schaffen soll. Die Männer sollten zunächst Ingenieurslösungen für unsere Gruppen suchen, ohne dass die stehenden Zelte abgebrochen und die Kinder wieder obdachlos werden müssen. Jetzt ist aber klar, dass lediglich an allen 20 Zelten die Gestängeteile ausgetauscht werden müssen. Und so wie es aussieht, kann das Team alles Nötige dafür auch noch rechtzeitig in der Dominikanischen Republik aus dem Zoll kriegen. - Alles auf Kosten des Lieferanten. Ich habe da größtes Vertrauen, dass die Männer das hinkriegen und bald amtliche Zelte stehen. Die Fehllieferung ist sicher nur das klassische Beispiel, wie trotz größter Umsicht Hilfsprojekte schiefgehen können. Und oft sogar ohne Wissen der Helfer... Mir dringt allerdings schon der Schweiß aus allen Poren, wenn ich nur daran denke, dass wir die nächsten Tage nochmal den Berg zu jener Gruppe erklimmen müssen, deren Zelt noch nicht steht, und dabei auch noch die Metallstangen hinauftragen müssen...

Liebe Grüße aus Haiti,
Stephan Krause

PS: Nachdem ich den kleinen Pool in meinem Guesthouse an dem Abend ausgiebig genutzt habe, bin ich übrigens auch wieder einigermaßen weiß...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen