Samstag, 6. November 2010

ein einzelner kann etwas bewirken


Wollen Sie wissen, wie eine Person etwas verändern kann? Dann steigen Sie auf die Trümmerhaufen aus Beton auf Morne Lazarre und fragen jemanden, Ihnen die Sopudep-Schule zu zeigen. Selbst würden Sie sie nicht erkennen: Von außen sieht sie wie ein einfaches Haus aus. Ohne Spielplatz, Flagge und seit dem Erdbeben sogar weitgehend ohne Wände. Aber wenn Sie durch das braune Tor treten, begegnen Sie Dutzenden Schülern, die im Hof an langen Tischen und unter Planen arbeiten. Bitten Sie einen darum, Rea Dol zu holen, die Gründerin und Direktorin.
Und wenn sie dann kommt, um Sie zu begrüßen – mit ihrem breiten, Zahnlücken offenbarenden und lauten Lachen – können Sie sie nach einer Führung durch die kaputten Klassenzimmer fragen, wo Kinder armer Familien für fast kein Schulgeld Lesen und Schreiben lernen, und die Küche besichtigen, in der täglich für sie gekocht wird. Falls Sie den Geruch des brennenden Plastikmüllhaufens ums Eck ertragen, dürfen Sie sicher auch den schmalen Streifen Land sehen, auf dem sie Mais anbaut.

Danach fragen Sie am besten nach Ryan Sawatzky, einem 33-jährigen Kanadier aus Orillia, Ontario. „Oh“, wird sie rufen, in die Hände klatschen und den Blick in den wolkenlosen Himmel werfen. „Jeden Tag bete ich für ihm. Ryan ist bon bagay, ein großartiger Mann.“ Seit drei Jahren unterstützen die Sawatzkys – neben Ryan auch sein Vater Garry, 58 – die kleine Schule. Sie haben ihre privaten Konten geräumt und 50.000 US-Dollar locker gemacht, um die Gehälter für 50 Lehrer zu bezahlen und genug Essen anzuschaffen, damit alle 554 Schüler täglich eine Mahlzeit erhalten. Nach dem Erdbeben aßen Hundert Familien in der ganzen Stadt Reis mit Bohnen, die durch Hilfen der Sawatzkys gekauft und von Dol von der Ladefläche eines Trucks aus verteilt worden waren. Während heute noch die meisten Schulen der zerstörten Hauptstadt um ihre Wiedereröffnung kämpfen, zieht Sopudep bereits in Übergangsräume, die von Studenten der Innenarchitektur entworfen wurden.

„Meine Lehrer haben im April umsonst gearbeitet“, sagt Dol. „Im Mai zahlte Ryan, im Juni auch. Momentan geht es um das Juli-Gehalt. Ich denke, Ryan wird es bezahlen. Ohne Ryan gäbe es keinen Unterricht.“ Dabei wirkt Sawatzky nicht gerade wie der Prototyp des Helfers. Er arbeitet für die Firma seines Vaters, Adventure Design Ltd., die Vergnügungsparks und Großaquarien baut. Aber offensichtlich hat er einen Nerv für humanitäre Arbeit. Er ist impulsiv und genießt das Leben wie im letzten Waggon einer Achterbahn mit offenen Armen – Grundlagen, die ihm als Helfer im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre entgegen kommen. Sein Engagement begann vor drei Jahren, als er im Sommer beschloss, sich weiterzubilden. Er verordnete sich, eine Bücherliste abzuarbeiten, die er erhalten hätte, wenn er die Schule abgeschlossen hätte: Die Biographie von Malcolm X, Noam Chomskys Hegemonie oder Überleben, und ähnliches. Das dortige Kapitel zur US-amerikanischen Manipulation in Haiti veranlassten Sawatzky, sich im Internet über Haiti zu informieren, wo er auf die Webseite eines kanadischen Photographen stieß, der Fotos zu Gunsten von Sopudep verkaufte. Die beiden Männer begannen eine Online-Konversation und binnen eines Monats kaufte sich Sawathky ein Ticket nach Port-au-Prince. Neben einem Urlaub im mexikanischen Cancún war das meine erste Reise in einem Drittweltland. „Ich war förmlich getrieben, nach Haiti zu gehen. Ich habe nach einem Weg gesucht, wo ich meine Hilfe selbst direkt in ein Projekt fließen sehen würde.“, sagte er.

Sopudep ist eine Rarität in Haiti, wo 80 Prozent der Schulen gewinnorientiert arbeiten und bis zu 500 US-Dollar Schulgeld verlangen. – Die Chance, ein kostenloses öffentliches Stipendium zu erhalten, steht ungefähr genauso gut wie erfolgreich aus dem Gefängnis auszubrechen, nämlich bei null. – Dol verlangt nur zehn US-Dollar Schulgeld pro Monat. Mehr als die Hälfte ihrer Schüler bezahlen gar nichts. Auch sie hat eine soziale Ader. Ihr Haus gehörte früher einem Mitglied der gefürchteten Tontons Macoutes, der Schlägertruppe Duvaliers. Im Keller, wo die kleine Rutsche ist, befand sich früher die Folterkammer. Als Jean-Bertrand Aristide 1991 an die Macht kam, enteignete er den Besitzer, stürzte den örtlichen Bürgermeister und vermietete das Haus an Dol, die damals als Lehrerin für Analphabeten arbeitete, damit sie dort eine Abendschule für Erwachsene aufmachte, die nicht lesen oder schreiben konnten. Aber die Klassen füllten sich gleich auch mit Kindern. Deshalb eröffnete Dol eine reguläre Schule. Nach Aristides Exil 2004 fehlte es der Schule an Mitteln. Nach drei Monaten, in denen die Lehrer keine Gehälter erhielten, erwog sie die Schließung der Einrichtung.

Genau dann traten die Sawatzkys in ihrer Leben, französische Bücher im Wert von 2.000 US-Dollar im Gepäck und Plänen, die Schule mit Computern auszustatten. Am zweiten Tag der Gäste in Haiti kam ein zehnjähriges Mädchen ins Büro der Direktoren und brach vor Garry Sawatzkys Füßen zusammen. Dol nahm das Mädchen ganz ruhig auf und schickte den Hausmeister, er solle einen Keks und Orangensaft kaufen. Das Mädchen sei nicht krank, sondern nur hungrig. „Da erkannten wir, dass es Wichtigeres gibt als Computer“, sagte Sawatzky. In dem Moment sei die Idee eines täglichen Mittagessens geboren worden. Am Ende ihres einwöchigen Aufenthalts beschlossen sie, zehn Prozent ihrer Firmengewinne in die Schule zu investieren. Direkt nach seiner Rückkehr gründete Ryan dafür eine Stiftung. Er gestaltete eine Webseite und schnitt einen Film über die Einrichtung. „Eigentlich wussten wir nicht genau, was wir tun sollten. Wir hatten mit Fundraising bislang überhaupt keine Erfahrung“, erinnerte er sich.

Vor dem Erdbeben tröpfelten die Spenden nur. Seit dem 12. Januar haben die Sawatzkys jedoch schon über 60.000 US-Dollar gesammelt. Einige Innenarchitekten gestalteten als Abschlussarbeit Übergangsklassenzimmer, die einfach mit Planen und Bambus zusammengesetzt werden konnten. Sawatzky brachte das Material nach Haiti. Ein Lehrer in New Brunswick sammelte 2.000 Französischbücher. Jeden Abend, nachdem er seinem Brotberuf nachgegangen und seinem zweijährigen Sohn eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hatte, organisierte Sawatzky einen Containertransport nach Haiti. Um die Kosten zu decken, überzeugte er eine Soßenfirma in Montréal, sich mit je zwei Dollar pro verkauftem Produkt zu beteiligen. „Ohne es je so geplant zu haben, werde ich mehr und mehr zum Vollzeit arbeitenden Entwicklungshelfer“, sagte er. Der Lernprozess sei riesig.

Im Juli flog Sawatzky wieder nach Haiti, um die eingestürzte Schule und das neue Stück Land zu besichtigen, das ein kalifornisches Ehepaar für Sopudep gekauft hatte. Ein Architekt aus New Mexiko hat sich schon bereit erklärt, die Pläne für den Neubau zu zeichnen. – Eine Last, die von Sawatzkys Schultern genommen wurde. Die neue Schule wird kleiner ausfallen. Dol hatte schließlich 230 Schüler und 15 Lehrer durch die Katastrophe verloren. Viele von ihnen starben, andere zogen in Obdachlosenlager auf die andere Seite der Stadt und können die Pendlerkosten nicht aufbringen. Eines abends trafen Dol und er bei einem Spaziergang auf eine kleine Schule mit 100 Kindern und vier Lehrern. Dol sagte dem Direktor Hilfe beim Erstellen der Lehrpläne zu, und Sawatzky und sein Vater versprachen, die Lehrergehälter zu bestreiten. Also beginnt hier alles von vorn. „Die Grundbedingung für humanitäres Arbeiten ist es, sich auf jene Dinge zu konzentrieren, die man ändern kann“, erklärte Sawatzky. Am Anfang habe ihn die Verantwortung für all diese Kinder und ihre Familien fertig gemacht. Jetzt genieße er die Herausforderung.

Eigenübersetzung des englischen Originals von Catherine Porter: heike fritz
Abdruck mit freundlicher Genehmigung von „The Toronto Star“.
http://www.thestar.com/news/world/haiti/article/876872--a-miracle-from-orillia-helps-haitian-students

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