Freitag, 23. Dezember 2011

Was hat er vor? – Kurzfassung der Regierungserklärung von Garry Conille

Der Anfang Oktober gewählte Ministerpräsident Garry Conille verfasste kurz nach seinem Amtsantritt eine umfassende allgemeine Regierungserklärung vor dem Parlament und dem haitianischen Volk: 100 Seiten mit einer genauen Analyse und realistischen Darstellung des Ist-Zustandes des Landes, 100 Seiten angekündigte Sofortmaßnahmen, längerfristige Pläne, Ziel- und Zeitvorgaben, 100 Seiten, die Hoffnung geben, dass dies der langersehnte Beginn einer politischen Neuordnung und Lenkung des Landes in eine bessere Zukunft und ein neues Haiti sein könnte.

Conille nimmt zunächst Bezug darauf, dass die Bevölkerung seit 5 Monaten, also seit der Präsident im Amt ist, auf eine Regierungsbildung warte und die ganze haitianische Gesellschaft zu Recht am Ende ihrer Geduld sei, ist sie doch geprägt von Mangel, Unzufriedenheit, Unsicherheit, Hunger, Armut, Arbeitslosigkeit.

Conille, der ins Amt gewählt wurde, nachdem zwei andere Kandidaten keine Mehrheit fanden, dankt denen, die ihm ihre Stimme geschenkt haben und will sich mit größtmöglichem Enthusiasmus dafür einsetzen, dass Haiti wieder lebendig und stark wird. Er habe sich aus Liebe zu seinem Land in dieses Abenteuer gestürzt, wofür er ein gesichertes Beamten- und Berufsleben aufgegeben hat. In seiner Zeit als Arzt in einem Krankenhaus habe er sich oft machtlos und verzweifelt gefühlt. Nachdem ihm ein junges, schwangeres Mädchen in einer ausweglosen Situation beispielhaft für viele Schicksäler in Erinnerung geblieben ist, wird er sich besonders für die Jugend des Landes einsetzen, so verspricht er.

Es folgt eine lange Wunschliste aus den Departements, die auf ausführliche Gespräche mit den Abgeordneten dieser Regionen Haitis zurückgehen. Diese reichen von dem Bau eines internationalen Flughafens und eines Hafens im Departement Sud über das Eindeichen der Flüsse in Sud-Est bis zu der Elektrifizierung von drei Gemeinden im Departement Artibonite. Fast alle fordern den Bau von Schulen und Berufsschulen, Straßenbau, Industrieparks und Bewässerungssysteme in der Landwirtschaft. Dem städtischen Chaos in Port-au-Prince soll durch das Schaffen von Marktplätzen Einhalt geboten werden, um die Bürgersteige freizulegen und den Verkehrsfluss am Laufen zu halten. Viele Schulkinder müssten um 4 Uhr aufstehen, um um 8 Uhr die Schule zu erreichen. Das Schaffen von Wohnraum und eine Abfallwirtschaft sollen ihr übriges tun.

Bevor Conille sein Programm für ein neues Haiti vorstellt, schließt er mit dem Volk einen Pakt für ein besseres Miteinander (Pacte du bien-vivre ensemble). Er besinnt sich auf die Lehre der Vorfahren: “L’unité fait la force” und erhofft sich eine Debatte, die Unterschiede und Differenzen anspricht, um Vorurteile und Streitigkeiten, die das Land mit geschwächt haben, auszuräumen. Es hätte ein gesellschaftlicher Dialog gefehlt.

Der Wiederaufbau Haitis umfasst gemäß Conille fünf große Säulen, die fünf großen E:
Education (Bildung und Erziehung), Emploi (Arbeitsplätze), Environnement (Umweltschutz), Etat de droit (Rechtssystem, innere Sicherheit) und Energie



1. Bildung und Erziehung (Education)
Conille hält das bestehende Bildungssystem für archaisch, ungerecht und nicht angepasst an die Bedürfnisse der Gesellschaft. Da 90 % der Schulen privat sind, viele Schüler diese aus finanaziellen Gründen nicht beenden können, möchte Conille eine Schule etablieren, die Chancengleichheit für alle bietet. Die Ausbildung eines Bürgers, der die Werte respektiert, eine demokratische Gesellschaft unterstützt und eine moderne Gesellschaft schafft, die auf Fortschritt und Entwicklung setzt, kann nur über eine Schule für alle erfolgen. Auch eine kontinuierliche Fortbildung der Lehrer könne dazu beitragen, dass die schulischen Inhalte nicht mehr am Arbeitsmarkt vorbeigehen. Als tragisch ist zu sehen, dass besonders in diesem für die Erneuerung des Landes so wesentlichen Sektor während des Erdbebens viele Studenten, Professoren, Schüler und Lehrer ihr Leben ließen. Die Berufsausbildung und die technische Ausbildung soll in allen Departements verbessert werden und jedes Departement soll einen Universitätskomplex erhalten, deren Absolventen die Avantgarde des Wiederaufbaus stellen werden.

2. Rechtssystem (Etat de droit)
Der Aufbau eines Sozial- und Rechtstaates bildet eine weitere große Aufgabe. Die Personenrechte sollen garantiert werden und für den Schutz der Bürger ein entsprechender Apparat eingerichtet werden, wobei die Justiz im Dienste des Volkes als unabhängige Gewalt agieren soll. Alle Bürger sind frei und erklären sich solidarisch miteinander unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Hautfarbe, ihrer wirtschaftlichen Situation und ihrer politischen Meinung gemäß den Menschenrechten.
Die öffentliche Sicherheit und das Vertrauen in die Polizei soll durch ein Einschreiten gegen jede Form gewalttätigen Handelns, den Kampf gegen Korruption, Bandenkriege und Straßenkriminalität hergestellt werden.
Im Bereich der Sozialpolitik soll die soziale Absicherung der Arbeiter verbessert werden. In Haiti sind 80 % der Bevölkerung komplett von der sozialen Sicherheit ausgeschlossen. Der soziale Wohnungsbau, der Bau von Waisenhäusern und Behinderteneinrichtungen soll vorangetrieben werden.
Der Gesundheitsbereich geht ebenfalls von verheerenden Voraussetzungen aus, die langsam durch ein Gesundheitswesen, das allen zugänglich ist, verbessert werden sollen: die Lebenserwartung liegt in Haiti derzeit bei 58 Jahren, die Kindersterblichkeit bei 86 von 1000 Kindern, jede Frau hat im Durchschnitt 6 Kinder, 2,2 % der Bevölkerung hat Aids, nur 30 % der Bevölkerung hat Zugang zum Gesundheitssystem. Neben der Kontrolle der Cholera ist der Kampf gegen Aids, Tuberkulose und Malaria aufzunehmen.
Einen Extra-Abschnitt seiner Erklärung widmet Conille der traurigen Situation der Frauen und will sich für ihre Gleichstellung einsetzen, sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen Bereich. Noch immer sterben 630 von 100.000 Frauen bei der Geburt ihrer Kinder, nur 0,7 % der Frauen befinden sich in Entscheidungspositionen. Viele sind Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt, dabei werden 42% der Haushalte alleine von Frauen geführt.
Nicht zuletzt ist für Conilles Sozialpolitik der Ausbau des Breitensportes, der Bau von Sportzentren und die Förderung einer Sportelite, die auch an internationalen Wettkämpfen teilnimmt, wichtig für den Aufbau einer leistungsstarken Gesellschaft.


3. Arbeitskräfte (Emplois)

Conille stellt fest, dass eine arbeitende Klasse in Haiti quasi inexistent ist. Er wird überwiegend die Bereiche Landwirtschaft, Wohnungsbau, Wiederaufbau, Tourismus, grenzübergreifendes Handeln und Außenhandel, leichte Industrie, wie beispielsweise Bekleidungsindustrie, sowie kulturelle und kreative Herstellung fördern. Hierfür sollen sog. Zones économiques intégrées eingerichtet werden, eine ausreichende Infrastruktur wie Straßen, Gebäude, Häfen, Flughäfen, Elektrizitätsnetze und Bewässerung geschaffen werden. Ziel ist es 1.000.000 Jobs direkt zu schaffen, die 1 ½ Mio. indirekt geschaffene Jobs nach sich ziehen. Die Zahl der Menschen, die weniger als 2 Dollar täglich verdienen, soll in den nächsten 5 Jahren um die Hälfte reduziert werden.
Die Landwirtschaft Haitis ist wenig produktiv, verfügt über wenig Kapital und ist kaum wettbewerbsfähig. Einige Lebensmittel, z.B. Reis werden zu 80 % aus dem Ausland importiert, insgesamt werden 60 % der Lebensmittel importiert. Die Armut auf dem Land ist besonders hoch. Die Landwirtschaft soll innerhalb von 5 Jahren 60% der Eigenversorgung sichern und 2/3 des Reisbedarfs selber herstellen. Conille verspricht über 10 Jahre staatliche Investitionshilfen und das Einrichten von landwirtschaftlichen Zonen gemäß Klima und Wachstumsbedingungen. Partnerschaften zwischen Landwirtschaft und verarbeitender Lebensmittelindustrie, Bewässerungssysteme und Straßenbau müssen in landwirtschaftlich genutzten Räumen geschaffen werden.
Das erste Wiederbeleben des Tourismus seit 2008 wurde durch das Erdbeben und die Wirbelstürme wieder zunichte gemacht, viele Hotels in Port-au-Prince und Jacmel zerstört. Nun soll unter der Regierung Martilly-Conille ein alternativer Tourismus entstehen, der historisch-orientiert, kulturell, sozial und umweltfreundlichist. Das Einrichten von Touristenbüros und einer Tourismushochschule gehört ebenfalls dazu wie sogenannte agro-touristische Dörfer.
Im Bereich des Wohnungsbau sollen 300.000 neue Wohnungen gebaut werden, die erdbeben- und wirbelsturmfest sind und in nicht überflutbahren Gebieten stehen. 600.000 Menschen sollen in ihre Gemeinden zurückgebracht werden, existierende Viertel wieder besiedelt werden und neue Viertel am Stadtrand von Port-au-Prince erbaut werden. Die niedrige Kaufkraft, das Nichtrespektieren von Eigentum und die Kataster haben dazu geführt, dass in den Wohnungsbau bisher nicht investiert wurde und Zufallsunterkünfte mit provisorischem Charakter gebaut wurden, die kaum Sicherheit bieten.
Die Förderung der Kultur erfährt von Conille besondere Wertschätzung, da in seinen Augen kulturelle Faktoren maßgeblich auch an einer wirtschaftlichen und politischen Entwicklung beteiligt sind. Kultur stiftet Solidarität, ist identitätsbildend, spiegelt das Bild eines Landes im Frieden und bedeutet Zusammenhalt beim Schaffen eines Projektes oder eines Werkes, welches gemeinsame Werte in sich trägt. Ausstellungen, Aufführungen und Sammlungen sind zudem Prestigeobjekte. Kultur soll deshalb allen zugänglich gemacht werden, der Bau von Theatern (momentan gibt es nicht eines), Kinos, Ausstellungsräumen, Bibliotheken unterstützt werden. Die traditionellen Feste wie der Karneval erfahren eine Aufwertung.




4. Umwelt (Environnement)
Die Lage der Umwelt in Haiti ist sehr ernst, die Umweltzerstörung stellt eine Bedrohung für das haitianische Volk dar. Die Haitianer stehen hier vor der großen Herausforderung, eine intensive Wiederaufforstung zu betreiben, die Holzkohle für die Haushaltsenergie durch eine Versorgung mit Gas zu ersetzen, die Böden und die Wasserqualität zu verbessern und zahlreiche Anti-Erosionsmaßnahmen einzuleiten (Hecken, Mauern etc.) und alternative Energien nutzbar zu machen.

5. Energie
Die flächendeckende Stromversorgung ist der Schlüssel für eine Industrialisierung, für das städtische Leben. Bisher gibt es im Schnitt 5-8 Stunden Srom pro Tag. Konkrete Projekte sind aktuell der Bau einer Talsperre am Fluss Artibonite mit brasilianischer Unterstützung, der Bau eines Windparks am See Azuei. Außerdem soll Energie durch Müllverbrennung erzeugt werden und der Schwerpunkt auf erneuerbaren Energien liegen.

Außenpolitik

Auch der Außenpolitik soll eine neue Richtung gegeben werden und das Land einer genauen Analyse unterzogen werden, wo es international gerade steht. Die Zusammenarbeit mit der CARICOM soll verstärkt werden. Auch Haiti muss sich langfristig aktiv in einer größeren Wirtschaftsgemeinschaft positionieren. Der Machtlosigkeit Haitis in der Welt soll beendet werden, indem das Land ein positiveres und aktiveres Bild für die Außenwelt zeigt. Hierzu müssen neue nationale Identitäten geschaffen werden. Die Menschenrechte werden anerkannt, der Frieden und die Solidarität der Völker von Haiti als Wert angenommen.
Die bilateralen Beziehungen zum Nachbarland Dominikanische Republik soll erneuert werden. Insbesondere sind Probleme wie die Migration, Drogenkontrolle, die Sicherheit, der Warenaustausch, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Studentenaustausch zu klären. Haiti strebt eine enge Zusammenarbeit in den Bereichen Kultur, Kunst, Erziehung, Wissenschaft, Technologie, Forschung und Entwicklung an.
Des weiteren pflegt Haiti historisch begründet bilaterale Beziehungen zu den USA, Frankreich, Kanada, die insbesondere für Unternehmensgründungen in den Bereichen Energie, Transport, Datentransfer und Zulieferung genutzt werden sollen.
Die Beziehungen zu den Karibik- und lateinamerikanischen Staaten wie Kuba, Venezuela, Kolumbien, Mexiko, Panama, Argentinien, Brasilien, Chile sowie einigen französischen Afrikastaaten und in Europa zu Großbritannien, Norwegen, Finnland, Schweden und Dänemeark soll weiter intensiviert werden. Haiti kandidiert für den UN-Sicherheitsrat, bewirbt sich um das Ausrichten von Gipfeln und verbessert sein Diplomatennetz, um sich im Ausland besser zu repräsentieren.
Conille betont, dass die Minustah im Bereich der öffentlichen Sicherheit, der politischen Stabilität und der Katastrophenhilfe sehr viel Gutes geleistet hat. Die kritischen Stimmen des Volkes bezüglich der Minustah werden ernst genommen. Insbesondere der Forderung des Volkes nach einer Wiedergutmachung für das Einschleppen der Cholera werde bedacht. Dennoch wird die Minustah weiter im Land bleiben.


Reform des Staates und Dezentralisierung

Die meisten Ministerien und die Verwaltung müssen nach dem Erdbeben nicht nur wiederaufgebaut, sondern auch neu organisiert werden. . Es soll ein sog. E-Gouvernement, also eine elektronisch gestützte Regierung entstehen, die mit Hilfe des Internetzugangs für eine bessere Vernetzung sorgt.
Dezentralisierte Strukturen werden es besser schaffen, Energienetze, Telekommunikation und eine Trinkwasserversorgung zu sichern, eine Infrastruktur zu schaffen und eine bessere Kontrolle der Umwelt und der natürlichen Ressourcen zu gewährleisten. Der Staat greift regulierend ein.

Budget

Derzeit wird eine genaue Projektliste mit Budget- und Zeitvorgaben erarbeitet. Conille spricht davon, dass ein “verlorenes Jahrzehnt” aufzuholen sei und das Wachstum und die Lebensbedingungen mit einer neuen Strategie verbessert werden sollen. In den Jahren 2011 bis 2015 soll ein jährliches Wachstum von 9 % erreicht werden. Die Steuern und Abgaben sollen nicht erhöht werden, dafür soll die Korruption gestoppt und Steuersünder in die Pflicht genommen werden. Die Kapazitäten der Finanzverwaltung und des Zolles sollen verstärkt werden. Der Staat zeigt im Hinblick auf die Finanzen eine größere Transparenz und überwacht Steuerflucht und Steuerbetrug, setzt das Staatsvermögen bestmöglich ein und setzt ein Kontrollorgan für die Staatsausgaben ein.

Im Fazit wendet sich Conille an die frustrierte Jugend. Haiti brauche ihre Träume, ihre Energie und ihren Mut. Er gibt seiner Traurigkeit darüber Ausdruck, dass die haitianische Seele degradiert wurde, die Werte, die die Authentizität und Originalität Haitis ausmachen, nichts mehr wert sind. Das Haiti seiner Jugend war geprägt von Brüderlichkeit, Teilen und Verzeihen, Werte, auf die man sich in diesem Neuanfang besinnen muss. Das heute bestehende Misstrauen hat Haiti den Elan genommen. Der ideologische Pluralismus der Gesellschaft baut sich auf Freundschaft, Brüderlichkeit und Vertrauen. Das Parlament als Mikrokosmos der Gesellschaft will hier mit gutem Beispiel vorangehen und das Vertrauen zueinander auch nach außen tragen.

(Verena Albert-Schlegl)

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