Mittwoch, 27. August 2014

24.8.2014 Reisebericht Andreas



24.08.14
Ich bin etwas durcheinander gekommen. Mein Tablet meint, es sei der 25., mein Handy zeigt den 23., meine Uhr wiederum den 24. und dem stimmt mein Gefühl zu. Jedenfalls ist morgen Montag und da muss ich wieder nach Hause fliegen. Oder darf? Eigentlich beides: Denn der Aufenthalt hier war – zusammengefasst – schrecklich schön! Schrecklich waren viele Bilder, die ich sehen musste, wie die brennenden Autoreifen letzten Freitagabend und Samstagmorgen, bevor wir nach Maissade aufbrachen. Das Viertel, in dem heute wieder Aristide wohnt, war nicht ohne Gefahr für Leib und Leben betretbar, man spürte die Unruhe und ich bin in solchen Situationen nicht neugierig! Später erfuhren wir, dass zu diesem Termin Aristide bei Gericht vorgeladen war: Waren es die Gegner Aristides, die ihrem Unmut ihm gegenüber äußern wollten oder die Anhänger, die es ja nach wie vor gibt, die diese Vorladung verhindern wollten? Heute haben wir erst erfahren, dass am Freitag 300 Schwerverbrecher den Weg aus dem Gefängnis gefunden haben - wie auch immer sie das schafften, man sagt hier, sie seien ausgebrochen. Bei dreihundert Leuten hätte das eigentlich auffallen müssen, das verdient ja schon die Bezeichnung Völkerwanderung.
Heute haben wir den ganzen Vormittag über Feinheiten des Projektes gesprochen, wie viele und wie große Fenster und Türen, welche genauen Maße für die Biotoiletten, woran muss beim Gießen des Fundamentes gedacht werden … Die Bestellungen müssen dringend raus, denn die Bearbeitung dieser Aufträge ist schleppend: Gut' Ding will Weile haben – das scheint auch eine gerne zitierte, vor allem aber praktizierte Redewendung im Kreolischen zu sein. Wir waren nämlich heute in der feinsten und auch leckersten Patisserie in Port-au-Prince, Delmas. „Epi d'Or“ nennt sie sich, vor allem die junge, obere Mittelschicht scheint sich hier zu treffen. Man sucht erst aus, dann geht man zur Kasse (nur eine, ab und an auch besetzt), dort bezahlt man und geht mit dem Bon zur Theke. Sofern die Kassierin verstanden hat, was man wollte und der Kunde das leise Nachfragender Kassierein verstanden und korrekt beantwortet hat. An der Theke wartet man höflich, bis die Bedienung das Gespräch mit ihrer Kollegin beendet hat (was je nach Thema auch schon mal dauern kann) und gibt mit einem höflichen „S'il vous plait“ den Bon ab. Rüde und fragmentarisch wird die Bedienung antworten, dass dafür die Kollegin nebenan zuständig sei, welche sich auch tatsächlich um die Bestellung kümmern wird, sobald die vorher gefragte Bedienung einen Schritt zur Seite gegangen ist, da sie genau vor dem erhofften und schon seit einiger Zeit bezahlten Teilchen steht. Danach gefragt antwortet man, dass man gerne hier essen möchte, worauf einem die Bedienung das gefragte Teilchen derart gut einpackt, dass es auch einen Tropenregen wie den gestrigen problemlos und trocken überstehen würde.
Die Gespräche wurden übrigens von meinen der Landessprache mächtigen Begleitpersonen geführt, wir haben uns dort mit Guinther, Benson und Rachelle getroffen, Guerino hatten wir mitgebracht er war schon zu einem Gespräch bei uns vorgeladen und saß auf heißen Kohlen, da seine Freundin heute Geburtstag hat.
Ach ja – Kaffee wollten wir auch gerne, den gibt es aber unter gleichen Umständen in einem anderen Abschnitt des Raumes, man sollte ihn übrigens anschließend bestellen, damit er nicht kalt ist, wenn man das Gebäck bekommt. Die Bedienung an der Kasse nahm auch nach einiger Zeit die Bestellung entgegen, der doppelte Kaffee war aber ausgegangen, sie könne uns nur noch den einfachen geben. Auf unseren Vorschlag, doch einfach zwei einfache in einen großen Becher (Pappe natürlich, mit Plastiklöffeln, man stellt ja schließlich etwas dar!) einzufüllen, konnte sie nicht eingehen, da sie nicht wusste, wie sie das ihrer Kollegin, die dem Gespräch neben ihr folgte, erklären solle. Daraufhin habe ich einen wahnsinnig gekonnten moonwalk beobachten können! Wie die Bedienung (Ausgabe, nicht Kasse) den recht kurzen Weg zwischen dem Tresen und der einzigen Kaffeemaschine gestaltete, das war schon varietéreif! Unsereiner hätte sich umgedreht – wie einfallslos, wie plump!
Den Kakao muss man sich selber über den Milchkaffee pudern, aber dadurch gestaltete sich der Vorgang etwas flotter, wenn auch nicht so elegant! Wie viele Haitianerinnen, die einen Job haben und von daher nicht mehr unter dem Mangel an Essbarem leiden, drängte diese nämlich auch dem traditionellen, rubensschen Schönheitsideal entgegen.
Aber Gebäck und Kaffee waren gut, und die Gespräche der Fondations-Mitglieder mit ihrer „weißen Mutter“ waren gelöst und fröhlich – das kann ich zumindest schon mal heraushören!
Und nun sitze ich in meinem Zimmer auf den fertig gepackten Koffern (nur metaphorisch! Ich sitze natürlich auf einem Stuhl und habe für den Rückflug auch nur noch einen Koffer, der Rest war ja für hier bestimmt!) und warte auf den morgigen Tag, der ein gefühltes halbes Jahr beendet. Im Flugzeug werde ich wahrscheinlich schon denken, dass es nur wenige Stunden waren, die ich in diesem schrecklichen, wunderbaren, elend armen und überaus reichen Land mit skurrilen Menschen und lieben Freunden verbracht habe.
Ganz viel werde ich vergessen haben zu berichten, vielleicht finde ich ja im Flugzeug noch die Zeit, das Vergessene aufzuarbeiten. Oder morgen früh vor dem Abflug passiert noch was...
Andreas

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